Samstag, 23. November 2024

Interview mit Dr. phil. Tobias Hayer: Der Glückspiel­staatsvertrag und das Automatenspiel – Teil 2

Dr. Tobias Hayer|Straße

Die Redaktion von CasinoOnline.de hat sich mit Herrn Dr. phil. Tobias Hayer über den Glücksspielstaatsvertrag unterhalten. Der Diplompsychologe und wissenschaftliche Mitarbeiter am Studiengang Psychologie, Arbeitseinheit Glücksspielforschung, der Universität Bremen, äußert sich im 2. Teil unseres Interviews zu der Frage, ob das Spiel an Automaten ein Suchtverhalten begünstigen könnte.

Addiction by Design

CasinoOnline.de: Sind Sie der Auffassung, dass Spielautomaten bewusst so gestaltet werden, dass Menschen die Kontrolle über ihr Spielverhalten verlieren?

Dr. Hayer: Natürlich sollen Glücksspielangebote jeglicher Art anziehend sein und Spielspaß mit einem hohen Bindungsfaktor garantieren. Dem Game Design mit seinen vielfältigen Facetten wie Spielgeschwindigkeit bzw. Ereignisfrequenz, Höchstgewinn oder Ausschüttungsquote kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu.

Dr. Tobias Hayer

Dr. Tobias Hayer zur Glücksspielregulierung in Deutschland (Bild: Kai Uwe Bohn / Universität Bremen Hochschulkommunikation)

Das Problem liegt jedoch auf der Hand: Mit der Steigerung des Spielspaßes wird in der Regel auch das Suchtpotenzial einer Spielform erhöht. Erfahrungen aus der Vergangenheit, gerade im Segment des gewerblichen Automatenspiels, zeigen eindrucksvoll, wie das Geschäftsmodell einer Umsatzmaximierung quasi ohne Grenzen gepflegt wurde.

Zudem wurden gesetzliche Vorgaben mit der Einführung des Punktespiels systematisch umgangen. Insofern ist der allgemeinen Hypothese, dass Spielautomaten suchtfördernde – bzw. neutraler ausgedrückt bindende – Features aufweisen, zweifelsohne zuzustimmen.

CasinoOnline.de: Welche Faktoren führen Ihrer Ansicht nach zu Glücksspielsucht? Gibt es bestimmte Anlagen, die eine Sucht begünstigen, oder könnte im Prinzip jeder Glücksspieler süchtig werden?

Dr. Hayer: Die Genese und Manifestation glücksspielsüchtigen Verhaltens repräsentiert einen komplexen Prozess: So sind es immer multiple Variablen, die eine Fehlanpassung im Entwicklungsverlauf bedingen. Mit der Suchttrias liegt ein etabliertes Ordnungsschema vor, mit dem grundsätzlich individuums-, umgebungs- und suchtmittelbezogene Risikofaktoren unterschieden werden können.

Das Vorliegen eines Risikofaktors bezieht sich übrigens auf eine Wahrscheinlichkeitsaussage und darf nicht mit einem deterministischen Prinzip verwechselt werden. Zum Beispiel erhöht auf Seiten des Individuums eine ausgeprägte Impulsivität oder ein defizitärer Umgang mit Stress die Wahrscheinlichkeit einer Problementwicklung. Auf Seiten des Glücksspiels ist das Krankheitsrisiko bei einer regelmäßigen Beteiligung am gewerblichen Automatenspiel oder am Live-Wetten vielfach größer als bei dem regelmäßigen Kauf eines Lottoscheins.

Aber: Weder jede impulsive Person noch jede Stammkundin / jeder Stammkunde einer Spielhalle wird ‚quasi automatisch‘ glücksspielsüchtig. Im Prinzip kann es somit jeden Menschen treffen, nur die Wahrscheinlichkeit dafür unterscheidet sich in erheblicher Weise.

CasinoOnline.de: Mike J. Dixon beschreibt das Spiel am Spielautomaten für pathologische Spieler als „Flucht vor der Realität“ und „Zustand der Absorption“, den der Spieler als angenehm empfindet. Nach Natasha Schüll erfüllt das Automatenspiel alle Kriterien, um diesen Zustand zu erreichen. Sind Sie der gleichen Auffassung? Wenn ja, welche Eigenschaften des Automatenspiels fördern diesen Zustand Ihrer Meinung nach besonders?

Dr. Hayer: Realitätsflucht und Absorptionserlebnisse sind bekannte Phänomene vor allem bei Angeboten mit hoher Spieldichte bzw. Ereignisfrequenz. Das Abtauchen in die „Welt des Glücksspiels“ oder in „die Zone“ (um in der Terminologie von Natasha Schüll zu bleiben), verbunden mit einem Verlust des Raum- und Zeitgefühls, funktioniert nur dann, wenn die Möglichkeit des kontinuierlichen „Zockens“ besteht. Gewinne lassen sich sofort wieder reinvestieren, Verluste über diese Spieldynamik hervorragend ausblenden.

Mann, Spielautomat

Viele Menschen besuchen in ihrer Freizeit Casinos und Spielhallen. (Bild: piqsels.com)

Hinzu kommen die passenden Umgebungsvariablen: Um externe Störquellen zu minimieren, sind Automatenspielstätten national wie international in der Regel eher dunkel gestaltet, Tages- oder helles Licht stellt in diesem Setting eine Seltenheit dar.

Letztlich ist jenes Phänomen ein gutes Beispiel für das „Schlüssel-Schloss-Prinzip“ oder Passungsmodell: Eine spezifische Motivationslage auf Seiten des Spielenden (z. B. Alltagsflucht) trifft auf ein Spielangebot mit seinen spezifischen Eigenschaften, das diese Bedürfnislage passgenau bedient.

CasinoOnline.de: Schüll schlägt vor, dass die Spiele so gestaltet sein müssten, dass sie im Laufe des Spielprozesses ihre Volatilität reduzieren, damit die Spieler schneller an ihre „Schmerzgrenze“ kommen, solange die Auszahlungsquote nicht verändert wird. Könnte dies ein Weg sein, exzessives Spielverhalten zu reduzieren?

Dr. Hayer: Grundsätzlich sind miteinander verknüpfte Parameter wie Volatilität, Preis- bzw. Gewinnstruktur und Ausschüttungsquote wichtige Variablen bei der Bestimmung des Suchtpotenzials einer spezifischen Glücksspielform. Die wenigen belastbaren empirischen Befunde aus der Forschung deuten unter anderem an, dass Automatenspiele mit einer geringeren Volatilität als weniger attraktiv empfunden werden.

Wissenschaftliche Evaluationsstudien zur Überprüfung dieses Effekts sind mir aber nicht bekannt, so dass ich die Aussage von Natasha Schüll erst einmal als Arbeitshypothese ansehe. Ohnehin steckt die Evaluationsforschung zum Game Design bzw. zum „technischen Spielerschutz“ noch in den Kinderschuhen.

Koi Princess Slot

Koi Princess ist einer der populärsten Slots in Online Casinos. (Bild: casinoonline.de)

Aus meiner Sicht bedarf es daher dringend der Durchführung von Forschungsarbeiten mit hochwertigen Studiendesigns, die suchtpräventive Wirkungen einer Modifikation bestimmter Veranstaltungsmerkmale auf das Spielverhalten und -erleben in systematischer Weise abbilden.

Im Fokus sollten dabei zunächst Faktoren wie die Verlangsamung der Spielgeschwindigkeit, die Einführung von Spielpausen und der Verzicht von Soundeffekten stehen.

CasinoOnline.de: Sind Sie der Auffassung, dass bestimmte Designelemente von Spielautomaten dem Spieler das Gefühl geben zu gewinnen, obwohl er/sie eigentlich verliert? Beispielsweise durch Musik- oder Geräuschsignale, die einen Gewinn feiern, selbst wenn dieser sehr gering ist oder unter dem Einsatz liegt?

Dr. Hayer: In der Tat fördern einzelne Veranstaltungsmerkmale Wahrnehmungs- und Deutungsweisen, die in der Fachliteratur auch unter der Kategorie der kognitiven Verzerrungen gefasst werden. Es ist bekannt, dass bestimmte Elemente des Game Designs, wie eine überzufällige Häufung von Beinahe-Gewinnen, bestimmte akustische bzw. visuelle Stimuli oder das Multilinienspiel diesen Prozessen Vorschub leisten.

Online-Spielautomat, Geldscheine

Die Auszahlungen bei Online Spielautomaten liegen im Durchschnitt bei 96 – 98 %. (Bild: casinoonline.de, uihere.com)

Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Nehme ich an einer Automatenspielvariante mit 10 Gewinnlinien und einem Einsatz von 10 Cent pro Gewinnlinie teil, ist es nicht unwahrscheinlich, dass ich auf einer Linie einen Gewinn einfahre.

Natürlich untermalt der Spielautomat dieses Gewinnerlebnis mit den entsprechenden musikalischen Signalen. Allerdings liegt der Gewinn üblicherweise unterhalb der Einsatzgrenze und bildet somit faktisch einen Nettoverlust. Im angelsächsischen Sprachraum wird dieses Ereignis auch als „Losses Disguised as Wins“ (= als Gewinne getarnte Verluste) bezeichnet. Vielspielende haben dafür eine alternative Übersetzung geprägt, die diesen Sachverhalt auf den Punkt bringt: „Man gewinnt sein Portemonnaie leer!“.

CasinoOnline.de: Welche Faktoren begünstigen Ihrer Meinung nach das Spielen an bestimmten Slots, während andere außer Acht gelassen werden? Und könnte ein Spieler bspw. eine Sucht beim Online-Spiel entwickeln, während er/sie niemals in eine Spielhalle oder eine Spielbank gehen würde?

Dr. Hayer: Im Allgemeinen lässt immer erst die Gesamtbetrachtung aller Veranstaltungsmerkmale verlässliche Schlussfolgerungen auf das Stimulations- und damit Gefährdungspotenzial einer bestimmten Spielform zu. Während situative Faktoren wie Verfügbarkeit und Werbung primär den Zugang zum jeweiligen Spielangebot erleichtern, besteht die Primärwirkung des Game Designs in erster Linie in der Förderung einer regelmäßigen Spielteilnahme.

Epidemiologische wie auch klinische Forschungsstudien aus Deutschland zeigen in konsistenter Weise, dass mit dem gewerblichen Automatenspiel eine hohe Suchtgefahr assoziiert ist. Diesen Umstand konnte eine Arbeit unserer Forschungsgruppe bestätigen: Bereits 3 Spieltage im Jahr reichen in diesem Marktsegment aus, um ein erhöhtes Risiko für das Vorliegen von mindestens einem Symptom einer glücksspielbezogenen Störung aufzuweisen.

Spielautomaten, Spielhalle

Spielhallen in Deutschland sind streng reguliert. (Bild: pixabay.com)

Da sich Geldspielautomatenspieler*innen offenbar immer noch finanziell ruinieren können, besteht weiterer suchtpräventiver Handlungsbedarf.

Zu denken wäre an die Einführung einer personenbezogenen Kundenkarte, die eine individuelle Limitierung von Einsatz-, Gewinn- und Verlusthöhen sowie Begrenzungen der Spielzeit bzw. entsprechend von Gesetzgeber definierte verbindliche Voreinstellungen ermöglicht. Außerdem sind alle Strategien, mit denen die bestehenden Eckpfeiler des Spielerschutzes systematisch ausgehebelt werden (u. a. über das Punktespiel), lückenlos zu unterbinden.

Zu Ihrer Anschlussfrage: Auf der einen Seite ist es sicherlich richtig, dass glücksspielsüchtige Personen generell eher mehrere Spielformen nachfragen. Auf der anderen Seite kann diese Subgruppe in der Regel sehr genau benennen, welches konkrete Spielangebot signifikant zu ihrer Problementwicklung beigetragen haben. Und hier fallen die Nennungen zumeist auf das gewerbliche Automatenspiel, gefolgt von den (Online-)Sportwetten sowie dem Online-Glücksspiel im Allgemeinen und eben nicht auf Rubbellose oder Bingo.

CasinoOnline.de: Wie könnte eine Alternative zum Automatenspiel aussehen, der dem Problemspieler quasi als gefahrlose „Ersatzdroge“ dienen könnte?

Dr. Hayer: „Gefahrlose Droge“ ist ein Widerspruch in sich. Der Konsum von Suchtmitteln und hier konkret die Nachfrage nach Glücksspielen geht immer mit gewissen Gefahren und Risiken einher. Ein entscheidender Aspekt bezieht sich dabei auf die Rahmenbedingungen: So stellt ein eng umschriebener Markt mit einem begrenzten Glücksspielangebot sowie dem weitgehenden Verzicht auf Werbung am ehesten eine geeignete Ausgangslage für einen erfolgversprechenden Jugend- und Spielerschutz dar.

Hinzu muss eine effektive Rechtsdurchsetzung kommen; Verstöße gegen die Bestimmungen des Jugend- und Spielerschutzes sind bis hin zum Erlaubnisentzug konsequent zu ahnden. Erst wenn diese „Verhältnisse“ annäherungsweise stimmen, ergibt auch die Diskussion um risikoärmere Spielvarianten wirklich einen Sinn.

Herr Dr. Hayer, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.

15 der 16 Bundesländer haben dem Glücksspielstaatsvertrag, der am 1. Juli dieses Jahres in Kraft treten soll, bereits zugestimmt. Ob es bis dahin noch weitere Änderungen in Bezug auf den Spielerschutz geben wird, wird sich zeigen, aber es dürfte schwierig werden, sowohl der Glücksspielbranche als auch den deutschen Spielern und Spielerschützern bundesweit gerecht zu werden.