Schach als E-Sport: Ein Klassiker auf der Höhe der Zeit
Lange war die Skepsis auf beiden Seiten groß: Diverse Schachspieler erlebten die zunehmende Verlagerung des Brettspiel-Klassikers ins Internet als Bedrohung ihrer Tradition. Viele Gamer empfanden das Strategie-Spiel und seine Stars als altmodisch und nicht in die Welt des E-Sports passend. Doch nun wächst zusammen, was möglicherweise schon immer zusammengehörte:
Seit 2020 erfährt Online-Schach einen Boom, auf den auch die optimistischsten Beobachter zuvor wohl kaum zu hoffen gewagt hätten. Mitverantwortlich hierfür dürfte neben der weltweiten Pandemie auch die Netflix-Serie „Das Damengambit“ gewesen sein.
Schach im E-Sport-Olymp
Mitte Januar 2021 erlebte die E-Sport-Welt eine Überraschung. Auf der Liste der Bestverdiener der Branche belegte der Norweger Sven Magnus “DrNykterstein” Carlsen Platz 1. Der 30-jährige Schach-Profi hatte 2020 rund eine halbe Million US-Dollar registrierter Preisgelder bei Online-Turnieren verdient.
Schachspieler Carlsen räumte 2020 die meisten E-Sport-Preisgelder ab (Quelle:commons.wikimedia.org/Lennart Ootes, licensed under CC BY-SA 4.0)
Die Höhe der Gewinne in anderen E-Sport-Turnieren war im Vergleich zum Vorjahr überschaubar ausgefallen, da diverse Groß-Events hatten abgesagt werden müssen.
2019 hatte der finnische Dota 2-Gamer Jesse „JerAx“ Vainikka das Ranking mit rund 3,2 Mio. USD angeführt. Nichtsdestotrotz bedeutete Carlsens Platzierung eine Sensation:
Erstmals war ein Vertreter des Schachs in den finanziellen Olymp des E-Sports aufgestiegen. Und nicht nur er hatte es mit dem Klassiker in die Call of Duty dominierte Top-10 des Jahres geschafft.
Platz 7 belegte der US-Amerikaner Hikaru “Hikaru” Nakamura mit rund 300.000 USD. Beide Spieler hatten sich 2020 insbesondere auf der Plattform chess24.com erfolgreich gezeigt.
Trend zum Online-Schach ungebrochen
Mit der Veröffentlichung der Liste der Bestverdiener [Seite auf Englisch] wurde deutlich, dass Schach seine Existenz als Nische im E-Sport hinter sich gelassen hat.
Hinweise, dass es so kommen werde, hatte es bereits seit einiger Zeit gegeben. Die ungewöhnlichen Umstände des vergangenen Jahres hatten dem Online-Schach jedoch einen Schub verpasst, den wohl die Wenigsten hätten voraussagen können.
Während konventionelle Turniere Corona-bedingt ausfallen mussten, verzeichnet die Online-Schachplattform chess.com mittlerweile über 55 Mio. Nutzer aus aller Welt. Täglich kommen rund 100.000 dazu.
Stars der Szene sammeln Hunderttausende von Abonnenten auf ihren Social Media-Accounts und streamen ihre Partien auf Portalen wie Twitch und YouTube vor zehntausenden Zuschauern.
Auch Legenden wie Garri Kasparov (57), der weithin als bester Schachspieler der Welt gilt, sehen in der Verbindung von Schach und E-Sport keinen Widerspruch. Im Gegenteil: Der Großmeister, der das europäische Team als nichtspielender Kapitän 2020 im Online Nations Cup der Plattform chess24.com anführte, erklärte im Interview mit der Bild:
Schach wird bereits seit Jahrzehnten online gespielt. Sogar bevor es das Internet gab. Daher könnte man Schach sogar als den ursprünglichen eSport bezeichnen. Schach mag nicht so beliebt im Fernsehen oder als Publikumssport sein, aber er kommt über das Internet, auf Smartphones und Tablets sehr gut rüber – sowohl zum Spielen als auch zum Zuschauen. Das ist ein echter Wettbewerbsvorteil gegenüber den Stadionsportarten.
Derweil wächst auch unter „klassischen“ E-Sportlern das Interesse am Spiel der Könige. So zeigt sich unter professionellen League of Legends-Gamern der Trend, die Community in Spielpausen bei Turnieren mit ein oder zwei Runden Blitzschach zu unterhalten.
Vereint im Ringen um Akzeptanz
Tatsächlich haben die scheinbar getrennten Szenen sehr viel mehr miteinander gemein, als Traditionalisten in beiden Lagern lange anerkennen wollten, wie der Marketingchef des Schachweltverbandes FIDE David Llada gegenüber dem britischen Sunday Telegraph ausführte. So gehe es bei beidem um Können, Technik und Reflexe. Wie Kasparow beschreibt auch Llada Schach als „die Mutter allen E-Sports“:
Jeder Entwicklungsschritt in der Computerwissenschaft, von den ersten Supercomputern über PC, Smartphones bis zu künstlicher Intelligenz, ist mit Schach verknüpft. Und wenn es demnächst den ersten Quantencomputer gibt, wird der sich mit Sicherheit als erstes daran machen, Schach zu lösen.
Schach und E-Sport ringen zudem um die offizielle und öffentliche Akzeptanz und Anerkennung als „Sport“. Diese bleiben ihnen ein ums andere Mal verwehrt. So scheitert der eSport Bund Deutschland e.V. (ESBD) immer wieder im Bemühen, vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) als herkömmlicher Sport anerkannt zu werden.
Der DOSB hatte erst im vergangenen Dezember ein von ihm in Auftrag gegebenes Gutachten öffentlich gemacht, nachdem E-Sport aufgrund mangelnder „Anforderungen an die Körperlichkeit“ nicht als Sport definiert werden könne.
Schach hingegen schreibt der DOSB einen Wettkampfcharakter zu, der die Definition als „Sport“ erlaube. Derweil bemüht sich der Weltverband FIDE seit langem um die Aufnahme seines Sports als Olympische Disziplin, bislang vergebens.
Das Damengambit sorgt für Schach-Hype
Unabhängig von der Einschätzung von Verbänden hingegen ist das 2020 immens gestiegene öffentlich Interesse am Schach. Mitverantwortlich für den Hype ist zweifellos die Serie „Das Damengambit“ des Streamingdienstes Netflix.
Szenen, in denen schnelle Züge der Protagonistin von Das Damengambit im Fokus standen, wurden von Filiz Osmanodja aus Dresden gedoubelt. Die 24-Jährige spielt seit ihrem fünften Lebensjahr Schach und trägt den Titel Großmeisterin.
Die Story um die junge Waise Beth Harmon, die sich ab den 1950er Jahren in einer männerdominierten Welt den Weg an die Spitze des internationalen Schachs erkämpft, belegte Netflix zufolge in 63 Ländern den Spitzenplatz der Angebote. Die Folge: Eine weltweite Schach-Renaissance in den Lockdown-geplagten heimischen Wohnzimmern, die auch vor Deutschland nicht Halt machte.
So berichtet die Plattform Ebay von einem Anstieg der Schachbrett-Verkäufe seit Launch der Serie im vergangenen Oktober von 215 %. Der deutsche Spieleverlag Goliath Toys will sogar ein Plus von 1.000 % registriert haben. Und auch Schachvereine vermelden ein massiv gestiegenes Interesse, wenngleich alle Angebote Pandemie-bedingt ins Netz verlagert werden mussten.
Ob es sich bei der großen übergreifenden Schach-Begeisterung um mehr als einen den Umständen geschuldeten Trend handelt, wird sich vermutlich erst mit Abflachen der Pandemie zeigen. Sehr wahrscheinlich scheint hingegen bereits jetzt, dass das Spiel der Könige aus dem internationalen E-Sport auch auf Dauer nicht mehr wegzudenken sein wird.